In der unten stehenden Darstellung der Obertonreihe können Sie erkennen, weshalb die Obertonreihe selber keine Tonleiter sein kann. Unsere Tonleitern haben zwar mit den Obertönen zu tun - wie noch zu zeigen sein wird - doch die Obertonreihe ist entgegen einer gelegentlich zu hörenden Annahme selber keine Tonleiter. 



Weshalb ist nun die Obertonreihe keine Tonleiter?

Tonleitern gehen naturgemäss und überall auf der Welt über eine Oktave. Ausnahmen davon gibt es, doch sie sind extrem selten. Tonleitern in Afrika, Asien, bei Indianern, in Europa, bei allen Volksmusiken, in der Sakralmusik des Mittelalters, im Barock, aber auch später in Klassik und Romantik, stets gehen alle, auch die unterschiedlichsten Tonleitern über genau eine Oktave. Der Grund dafür liegt in einer Kombination von Physik, Mathematik und menschlichem Empfinden, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe (Stichwort: Happy Birthday Experiment). 

Tatsache ist aber, dass alle Töne einer Tonleiter innerhalb einer Oktave sein müssen. Wenn eine eine Melodie über eine Oktave hinausgeht, dann müssen in der neu angesetzten Oktave genau die gleichen Töne zu finden sein, wie in der ursprünglichen Oktave. Die Tonleiter ist immer eine Leiter über eine Oktave und wenn die nächste Oktave kommt, wird genau die gleiche Leiter in der neuen Oktave angelegt. Nur so können Männer, Frauen, Kinder und Instrumente in verschiedenen Tonlagen gleichzeitig im Wohlklang die gleiche Melodie ertönen lassen.

Wenn wir nun die Obertonreihe (siehe Abbildung oben) ansehen, erkennen wir, dass in der ersten Oktave gar kein Tonleiterton zu finden ist - ausser dem Grundton und seiner Oktave, also den beiden Enden der Tonleiter. Die Enden der Tonleiter wären also da, doch die Füllung fehlt. In der zweiten Oktave finden wir gerade einen Tonleiterton, nämlich die Quinte. Die dritte Oktave bringt die Töne des Dominantseptakkords, doch das ist auch noch keine Tonleiter. Auch die vierte Oktave ist keine attraktive Tonleiter, denn ab dem 10. Oberton liegen die Töne sehr nahe beieinander, und dieser Effekt verstärkt sich mit jedem neuen Oberton.

Gelegentlich wird in der Literatur zur Tonlehre vorgeschlagen, die Obertöne der höheren Oktaven 'herunterzubrechen' und so eine Tonleiter zu füllen. Man kann so in der Tat die Töne z.B. für unser Dur in den verschiedenen Oktaven zusammensuchen. Doch bei genauer Betrachtung stimmen die Tonhöhen dann doch nicht genau (in der Abbildung die Töne in Klammern), und es stellt sich die Frage, welche Töne man herunterbrechen will und welche nicht. Die Rechnerei wird sehr schnell sowohl kompliziert, wie auch willkürlich.

Zudem werden die höheren Obertöne immer schwächer, sie klingen nicht mehr und sind nur noch rechnerisch, d.h. theoretisch zu finden.

Der Hauptgrund aber, weshalb die Obertonreihe keine natürliche Tonleiter darstellt, liegt darin, dass es eine viel bessere, einfachere und plausiblere Erklärung gibt, nämlich die drei Regeln für resonante Tonleitertöne (inaccessible).

Wir verzichten also darauf, unsere bekannten Tonleitertöne auf komplizierte Weise aus den Obertönen abzuleiten. Trotzdem spielen die Obertöne eine wichtige Rolle, nämlich als Resonanzen zweiten Grades.